
Die Europäische Union bezeichnet sich stolz als das weltweit ehrgeizigste Projekt für Demokratie. Wenn es jedoch um das neue »EU-Weinpaket« geht, scheinen diese demokratischen Ideale stillschweigend beiseitegeschoben worden zu sein. Der Vorschlag einer umfassenden Reform der Vorschriften für die Herstellung, Vermarktung und Kennzeichnung von Wein in der gesamten EU wird mit ungewöhnlicher Geschwindigkeit und begrenzter Transparenz vorangetrieben. In einer Union, die der Welt oft ihr Bekenntnis zu Fairness und Verantwortlichkeit vor Augen führt, offenbart dieser Prozess ein beunruhigendes Ungleichgewicht zwischen öffentlichem Interesse und privatem Einfluss.
Erstens wurde das EU-Weinpaket vorangetrieben, ohne dass je geprüft wurde, welche Auswirkungen der Aufschwung der EU-Weinindustrie auf die öffentliche Gesundheit haben wird. Dies ist umso bemerkenswerter, da für fast alle anderen politischen Vorschläge routinemäßig Umwelt-, Wirtschafts- oder Gender-Folgenabschätzungen verlangt werden. Diese Unterlassung ist von Bedeutung. Alkohol ist nach wie vor eine der häufigsten vermeidbaren Ursachen für Krankheiten und vorzeitige Todesfälle in Europa. Er belastet die nationalen Gesundheitssysteme jedes Jahr mit Hunderten von Milliarden Euro. Dennoch hat die EU keine Anstrengungen unternommen, um zu untersuchen, wie sich dieser neue Vorschlag auf die Kosten auswirken könnte – oder wie sich stattdessen gesündere Konsumgewohnheiten fördern ließen. Wenn Beweise zugunsten der Zweckmäßigkeit ignoriert werden, ist es schwierig zu behaupten, dass Entscheidungen im öffentlichen Interesse getroffen werden.
Darüber hinaus wird das Europäische Parlament nicht einmal eine offene Debatte über das Dossier führen. Am 5. November hat der Landwirtschaftsausschuss sowohl das Weinpaket verabschiedet als auch sich selbst ein direktes Mandat für Verhandlungen mit der Kommission und dem Rat erteilt – und dabei das Plenum vollständig umgangen. Diese Verfahrensverkürzung wird mit »Dringlichkeit« begründet. Dabei betrifft die Dringlichkeit nicht den Schutz der Gesundheit der Bürger*innen, sondern die Vermeidung politischer Reibereien. Eine Politik, die die Produktion, Kennzeichnung und den Handel in allen Mitgliedstaaten beeinflusst, wird somit beschlossen, ohne dass die Stimmen der meisten gewählten Vertreter*innen jemals gehört werden. Für eine Union, die andere über demokratische Rechenschaftspflicht belehrt, sendet dieser Ansatz hinter verschlossenen Türen das gegenteilige Signal.
Drittens – und dies ist vielleicht am beunruhigendsten – wurden Organisationen des öffentlichen Gesundheitswesens aus der Zivilgesellschaft vollständig aus dem Prozess ausgeschlossen. Während Vertreter*innen der Industrie zu mehreren hochrangigen Treffen mit der Kommission und ihren Dienststellen eingeladen wurden, wurde Gesundheits- und Verbrauchergruppen die Teilnahme verweigert. Es wurden keine Sitzungsprotokolle veröffentlicht, keine Konsultationen der Interessengruppen durchgeführt und unabhängigen Expert*innen wurde keine Gelegenheit gegeben, Daten oder Standpunkte vorzubringen. Für diejenigen, die sich für die Verringerung alkoholbedingter Schäden einsetzen, ist dieses Schweigen ohrenbetäubend. Die damit vermittelte Botschaft ist unmissverständlich: Die Interessen der Hersteller*innen sind wichtiger als das Wohlergehen der Bürge*:innen.
Wenn die Europäische Union ihren Titel als das weltweit ambitionierteste demokratische Projekt verteidigen will, muss sie sich an dieselben Standards halten, die sie auch von anderen verlangt. Das bedeutet, dass sie Debatten zulassen, einheitliche Beweisregeln anwenden und sicherstellen muss, dass jede Stimme gehört wird – und nicht nur die derjenigen, die von mächtigen Interessen unterstützt werden. Demokratie misst sich schließlich nicht daran, wie schnell eine Entscheidung getroffen wird, sondern daran, wer daran beteiligt ist. Das Weinpaket mag nur eine einzelne politische Maßnahme sein, aber es steht stellvertretend für eine grundlegende Frage: Gehören die europäischen Institutionen noch immer den Menschen, für die sie geschaffen wurden?
- Actis (Norwegisches Politiknetzwerk für Alkohol und Drogen)
- Alcohol Action Ireland
- Eurocare Italia
- Guttempler in Deutschland
- IOGT-NTO / Movendi Sverige
- Movendi International
- Nederlands Instituut voor Alcoholbeleid
- UTRIP – Institut für Forschung und Entwicklung (Slowenien)
Massive Kritik am Weinpaket der Europäischen Kommission

Als Teil einer Koalition europäischer Gesundheitsorganisationen haben wir uns heute mit einem gemeinsamen Positionspapier an die Abgeordneten des Europäischen Parlaments im Landwirtschaftsausschuss gewandt, um unsere konkreten Bedenken bezüglich des vorgeschlagenen Weinpakets zum Ausdruck zu bringen. In dem Papier werden die Auswirkungen des Vorschlags auf die Gesundheit, die Ressourcennutzung und die Transparenz der EU-Alkoholpolitik dargelegt.
Die Unterzeichner*innen vertreten nationale und europäische Organisationen aus 15 Mitgliedstaaten. Gemeinsam sprechen wir für Millionen von EU-Bürger*innen und Fachleuten, die sich für Gesundheitsförderung, Prävention und Patientenvertretung engagieren.
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Neue Studie: Wer steckt hinter den Kampagnen gegen die Zivilgesellschaft?

Beim ersten Recovery Walk in Deutschland gingen 2025 über 700 Menschen mit Abhängigkeitserfahrungen gegen ihre Stigmatisierung in Leipzig auf die Straße.
Zivilgesellschaftliche Akteur*innen sind ein wichtiger Bestandteil moderner Demokratien: Sie bündeln gesellschaftliche Interessen, schaffen Raum für Engagement und bilden ein Gegengewicht zu den Interessen finanzstarker Konzerne. Während unsere Demokratie von innen und außen angegriffen wird, stärken zahlreiche Vereine, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Initiativen den gesellschaftlichen Zusammenhalt und stehen für demokratische Werte ein. Doch auch zivilgesellschaftliche Handlungsräume geraten zunehmend unter Druck.
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